Extreme Manufacturing
Vor einiger Zeit durfte ich einem wirklich sehr interessanten Meetup1 mit Joe Justice beiwohnen. Joe Justice2 ist Agile Coach und spezialisiert auf Agilität in der Produktion. Es ist im Nachhinein unglaublich, was Joe Justice in 60 Minuten an Wissen, Energie und Impulsen „rausgehauen“ hat. Meine Welt stand danach ein wenig auf dem Kopf. In diesem Artikel werde ich einige Punkte benennen, die ich bei dem Thema Agile Hardware und insbesondere im Umfeld von Tesla sehr beeindruckend fand.
Eine freundliche Warnung
Ein Hinweis, in diesem Artikel geht es um Tesla und auch um Elon Musk. Als ich den Artikel geschrieben habe, war Elon Musk umstritten. Nach der Überlegung von Elon, Twitter zu kaufen und seine Positionierung für die Republikaner scheint er geradezu verhasst.
Musk bleibt für mich weiterhin inspirierend, denn er bringt Dinge in Bewegung. Musk zeichnet dadurch aus, dass er visionär denkt 3 und seine ambitionierten Ziele konsequent und großer Leidenschaft4 verfolgt.
Aus meiner Sicht bringt Benedict Evans die Persönlichkeit von Musk auf den Punkt:
Elon Musk ist ein Aufschneider, der liefert. Das widerspricht den Vorurteilen vieler Menschen, in beiden Richtungen.
Tesla
So war Tesla lange ein Unternehmen, das von der deutschen Automobilindustrie belächelt wurde5. Mittlerweile wird es bewundert. Tesla hat im letzten Quartal beispielsweise in den USA einen Marktanteil von 75 % in der Elektromobilität erreicht. Alle anderen fahren mit geringen Prozentanteilen hinterher.
Extreme Manufacturing
Heutige Software-Entwicklung wäre nicht möglich, wenn sich nicht die Leistung der Computer dramatisch verbessert hätte. Ein Beispiel dafür sind die Compilierzeiten6, die sich von mehreren Wochen in den 60ern auf Minuten oder Sekunden reduzierten. Erst diese fantastische Beschleunigung ermöglichte Arbeitsweisen, wie sie beispielsweise im agilen Manifest beschrieben wurden.
In der industriellen Fertigung sieht es anders aus. Ich kann nicht einfach auf einen Knopf drücken und die Veränderung ist eingespielt. Oder geht das vielleicht doch?
Wir rühmen uns in Deutschland zu Recht, dass wir „Effizienzweltmeister“ sind. Wir können große Stückzahlen von hochqualitativen Fahrzeugen produzieren, dennoch benötigen die meisten Unternehmen Monate, manchmal Jahre, um signifikante Verbesserungen an ihren Produkten vorzunehmen.
Extreme Manufacturing folgt demselben Gedankenspiel, wie dem des Extreme Programming: Was entsteht, wenn in der Produktion eine Veränderung nicht mehr in Monaten, sondern in wenigen Stunden auf Wirksamkeit geprüft werden könnte? Was passiert eigentlich, wenn jedes Fahrzeug ein Unikat ist und ein klein wenig besser (oder anders ist), als das zuvor produzierte?
Wenn diese Bedingungen erreicht sind, dann sind wir bei dem, was Joe Justice als Extreme Manufacturing bezeichnet.
Geschwindigkeit zur Problemlösung schlägt Effizienz
Ein Credo von Elon Musk ist, dass Geschwindigkeit entsteht, wenn konsequent das jeweils größte Problem zur Seite geräumt wird. Dazu gibt es eine interessante Metrik: Jeder Flaschenhals muss innerhalb von 25 Minuten beseitigt werden. Um diese wahnsinnige Zahl zu erreichen, gibt es ein Höchstmaß an Autonomie und das Mobbing. Mobbing bedeutet, dass an der Stelle, wo gerade das große Problem, der große Flaschenhals auftritt, alle helfen, diesen zu lösen. Damit das wirklich jeder macht, ist die Verantwortung der Mitarbeiter nicht die eigene Zuständigkeit im Silo, sondern dass Tesla insgesamt liefert. Keiner ist oder soll sich zu schade sein, mit anzupacken.
Bei besonders großen Problemen reist der Chef selbst an. Er trinkt denselben Kaffee, hat keine Vorrechte beim Parkplatz und bringt seinen Schlafsack mit. Musk übernachtet gerne am Ort des Problems, um im Schlaf neue Ideen zur Problemlösung zu generieren.
Bitte das jetzt nicht falsch verstehen: Du musst nicht am Ort deiner Probleme übernachten, aber die Idee, vor dem Schlafen einfach kurz das größte Problem zu reflektieren, das du gerade lösen willst, hilft den unbewussten Schlaf zu nutzen. Oft gibt es beim Aufwachen einen Heureka-Moment.
Es geht bei Tesla daher nicht um Effizienz. Effizienz ist ein Ergebnis eines konsequenten Critical Chain Managements.
Compilierzeit in der Produktion
Wie erreicht Tesla die Fähigkeit, Verbesserungen im laufenden Fertigungsprozess vorzunehmen?
Das gelang, indem der Fertigungsprozess möglichst vollständig in der eigenen Hand liegt. Tesla verfügt, im Gegensatz zur klassischen Automobilindustrie, über eine massive vertikale Fertigungstiefe. Damit steht Tesla im starken Gegensatz zum klassischen Outsourcing.
Tesla behält die Kontrolle über das gesamte Produkt: von der Karosserie über die Fahrzeugelektronik bis hin zur Software, die das gesamte Fahrzeug steuert. Alles ist in eigener Hand. Das widerspricht scheinbar vollständig den Regeln der klassischen Ökonomie und funktioniert dennoch. Ein Grund ist, dass die klassische Ökonomie nicht die Dynamik der schnellen Adaption durch vollständige Softwareisierung einpresst.
Kent Beck, Erfinder des Extreme Programming sagte, wenn durch verschiedene Praktiken die Kosten für eine Veränderung eines Produktes auf 0 geht, dann sind Kosten für umfassende Planungs-, Dokumentations- und Abstimmungsprozesse reine Verschwendung.
Oder anders gesagt, wenn ich trotz ständiger Veränderungen und Verbesserungen einen effizienten Produktionsprozess aufrechterhalten kann, dann bin ich in der Lage jedes Outsourcing-Konzept zu schlagen.
Agilität ohne SM, PO & Co
Die oben aufgeführten Punkte sind Beispiele, die mich insgesamt dazu veranlassen zu sagen, dass Tesla eines der weltweit agilsten Unternehmen ist. Ein agiles Unternehmen, ohne Post-its, ohne Scrum-Master, ohne Product Owner und ohne viele Dinge, die bei New Work herausgehoben werden. Ganz vorne weg der „Purpose“ oder das „Why“?
Joe Justice sagt dazu, dass ein Agile Coach kein Selbstzweck ist, sondern etwas, was jeder Mitarbeiter im Unternehmen ausüben soll. Wichtig ist, dass jeder in der Lage ist (technische) Probleme zu lösen. Tesla ist ein Laden der technischen Exzellenz. Auch Führungskräfte müssen im Detail verstehen und bewerten können, was ihr Team macht.
Warum will man in so einem Laden arbeiten?
Bei Tesla wird hart gearbeitet. Bei Tesla ist der kompetente Ingenieur der Held. Bei Tesla haben es Betriebsräte schwer. Bei Tesla wird schnell gefeuert. Ja, bei Tesla haben es auch Frauen schwer.
Daher stellt sich mir die Frage:
Warum, um Gotteswillen, will man in so einem Laden arbeiten? Das ist doch verrückt.
Nun, es gibt einen Punkt, den ich zuvor bereits erwähnt habe. Tesla bewegt etwas, Tesla liefert! Tesla macht es den Mitarbeitern nicht einfach und dennoch, es ist für viele Mitarbeiter ein großartiges Gefühl zu sagen: da habe ich mitgearbeitet, da habe ich Einfluss gehabt, da habe ich mal wirklich was bewegt.
Und das ist vielleicht ein Punkt, den du und ich mitnehmen können. Es geht bei Arbeit am Ende des Tages darum, etwas zu hinterlassen, auf das man stolz sein darf. Es geht darum, mit den eigenen Händen und dem eigenen Verstand etwas zu schaffen, was Eindruck hinterlässt.
Vielleicht ist der Führungsstil von Elon Musk etwas, das nicht übernommen werden sollte. Aber das langzeitige Denken, der unbedingte Wille, sich nicht mit Problemen abzufinden und das schöne Gefühl, am Ende jeden Tages etwas geschafft zu haben. Das finde zumindest ich doch sehr inspirierend.
Hinweis:
Das Titelbild entstammt seinem TEDx-Talk vom 27.11.2011
-
Hier ist das Video zum Meetup mit Joe Justice: https://www.youtube.com/watch?v=tatpvxq0z_4 von proagile.de. Danke an Christian Müller und sein Team für die Organisation! ↩︎
-
Joe Justice und sein Agile Hardware Institut: https://www.abi-agile.com ↩︎
-
Elon Musk plant die Besiedlung unserer Galaxie durch die Menschheit. Das ist sein Long Term Goal. Das Short Term Goals ist die Besiedlung des Mars und auf dem Mars funktioniert kein Verbrennungsmotor. Vor diesem Hintergrund sollten die Entscheidungen von Elon Musk bewertet werden und plötzlich ergibt vieles einen Sinn. ↩︎
-
Bis vor 10 Jahren waren sich alle Branchenexperten einig, dass es unmöglich ist, eine große Automarke neu zu etablieren. Bis dahin gab es nur Konsolidierungen und Zukäufe. Vor 5 Jahren wurde Elon Musk vom damaligen Vorstand von VW Matthias Müller belächelt https://youtu.be/wSklSKRkIpk. die ↩︎
-
Einen Steve Ballmer Moment hatte der ehemalige Volkswagen Chef Matthias Müller in 2017 über Tesla. Sein Nachfolger Herbert Diess äußert sich da ganz anders. Ansehen und schmunzeln: https://youtu.be/wSklSKRkIpk ↩︎
-
Die Compilierzeit ist die Zeit von der Übersetzung des Quelltextes bis hin zum ausführbaren Code. In der Frühzeit der EDV wurde der Quelltext auf Lochkarten kodiert und die Übersetzung konnte erst erfolgen, wenn der Programmierer einen Zeitslot auf der Maschine für die Übersetzung zur Verfügung hatte. ↩︎