Die Objective-Story oder deine Heldenreise zum perfekten Objective
Das fiktive Unternehmen Peugeot
In seinem Buch “Eine kurze Geschichte der Menschheit” beschreibt der Autor Yuval Noah Harari die Geschichte der fiktiven Firma Peugeot. Und ja, Harari behauptet wirklich, dass das Unternehmen Peugeot und eigentlich alle Unternehmen Fiktionen und keine Realitäten sind. Die Firma Peugeot existiert nur deshalb, weil wir Menschen davon überzeugt sind, dass es sie gibt. Peugeot wurde durch mächtige Juristen und Notare erschaffen, die mit ihren bürokratischen Zaubersprüchen und komplizierten Beschwörungen das Unternehmen durch ein mit schnörkelhafter Schrift beschriebenes Papier ins Leben riefen. Der Namensgeber der Firma Peugeot, Armand Peugeot, ist zwar schon lange tot, aber das mit seinem Namen verknüpfte Unternehmen existiert weiter, als ob es unsterblich wäre (was es natürlich nicht ist).
Geschichten und die dadurch entstehenden fiktiven Wirklichkeiten bilden den Kit, der uns Menschen zusammenarbeiten lässt. Eine gut erzählte Geschichte ist kein Märchen, sondern kann durchaus eine vorweg genommene Realität sein. Und das hat eine ganze Menge mit Zielen oder Objectives zu tun.
Die Erfindung der User Story
In der agilen Welt wurde die Kraft der Geschichten bereits früh genutzt. Kent Beck erfand (nach Anregung von Alistair Cockburn) für seinen Entwicklungsprozess Extreme Programming das Konzept der User Story1. Beck und Jeffries erkannten, dass eine vom Kunden erzählte Geschichte zu deutlich besseren Produkten führt, als eine bis ins Detail beschriebene Spezifikation durch einen Business-Analysten.
In dem Wiki für Extreme Programming wird die User Story so beschrieben:
User Stories werden von den Kunden für Dinge geschrieben, die das System erledigen muss. Sie haben das Format von etwa drei Sätzen Text, die vom Kunden in ihre Kundensprache und ohne Techno-Syntax geschrieben wurden.
Anfang der 2000er-Jahre erfand Rachel Davies eine Schablone für User Stories. Die von Davies erdachte Schablone sieht so aus:
„Als [Rolle] möchte ich [Funktion] um [Nutzen].“
Damit werden 3 W-Fragen beantwortet:
- Wer möchte die Funktion?
- Was ist die Funktion?
- Warum sollte die Funktion überhaupt realisiert werden?
Das Konzept der User Story wurde so erfolgreich, dass es sich heute für Anforderungen durchgesetzt hat. Bevor wir auf die Schablone für Objectives schauen, schauen wir gemeinsam auf das Narrativ einer guten Geschichte.
Der Held, seine Chance und das Tagesgeschäft
Der amerikanische Literaturwissenschaftler Joseph Campbell wollte wissen, ob es eine Art Rezept für gute Geschichten gibt. Dazu isolierte sich Campbell völlig von der Außenwelt und studierte wie ein Eremit den Aufbau unzähliger Mythen und Geschichten. Campbell entdeckte tatsächlich eine Essenz erfolgreicher Erzählungen. Es gibt einen roten Faden, der zumindest in Teilen in allen guten Geschichten wiederzufinden ist. Er nannte diesen fiktiven Handlungsstrang die Heldenreise. Es gibt übrigens zwei moderne Märchen, die diese Heldenreise faktisch 1 : 1 übernommen haben: das Buch “Der Herr der Ringe” und der Film “Star Wars”.
Ich beschreibe jetzt die wichtigsten Elemente der Heldenreise aus Film- und Businesssicht:
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Es gibt in jeder Geschichte einen Helden, der eine dramatische Transformation erlebt. In Star Wars ist es Luke Skywalker. Im Herr der Ringe ist der Held Frodo. Im Kontext des Zielsystems OKR ist der Held das Team. Egal, ob wir über das Führungsteam auf Unternehmensebene reden oder ein sonstiges Team im Unternehmen.
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Es gibt in jeder Geschichte eine schreckliche Gefahr oder eine unfassbar große Chance. Das ist der Grund, warum der Held die gefährliche Reise auf sich nimmt. Im Business ist es der dringliche Grund zur Veränderung.
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In vielen Geschichten zaudert der Held und ist sich seiner Heldenhaftigkeit nicht bewusst. Der Held führt sein Leben weiter, auch die große Gefahr droht. Kurz, der Held hat ein Tagesgeschäft, das ihm keine Zeit für Experimente oder Abenteuer lässt. Das Tagesgeschäft ist der wahre Feind des Helden. Im Business brauchen wir einen Ankerpunkt, der es uns erlaubt aus dem Tagesgeschäft auszubrechen. Daher sind die Planungszyklen oder Kadenzen bei OKR oder Scrum so hilfreich. Es hilft jetzt alles nichts: Wir planen die Zukunft.
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In vielen Geschichten gibt es einen Mentor, der den Helden zum Aufbruch bewegt. Der Mentor nimmt den Helden an die Hand und schiebt ihn vor die Tür: “Mach jetzt den ersten Schritt!” Das ist der Grund, warum Prozesse wie Scrum oder OKR eine Art Mentor vorsehen. Der Agile Coach unterstützt die Teams bei ihren ersten Schritten.
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Der Held durchläuft in der Geschichte eine Transformation. Erst die Reise wandelt den einfachen Menschen zum Helden. Die Transformation steht im Geschäftskontext für eine wirksame Veränderung der Organisation. Irgendetwas ist anders, als es vorher war.
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In der Heldenreise gibt es einen mythischen Ort2, zu dem der Held aufbricht und wo er die Lösung aller Probleme findet. Der mythische Ort steht für das Verlassen der eigenen Komfortzone. Die wahre Veränderung findet nicht in den eigenen Räumen statt, sondern draußen, beim Kunden, in der Produktion, oder wo auch immer.
Eine Story-Schablone für eure Objectives
Wie können wir die Heldenreise für die Entwicklung von Objectives im Zielsystems Objectives & Key Results nutzen? Was wären die Eigenschaften einer solchen Geschichte und wie kann ein Objective strukturiert, also nach Rezept, formuliert werden?
Der bekannte OKR Experte Paul Niven3 gibt zur Formulierung von Objectives wichtigen Rat:
Viele Teams tuen sich schwer in der Formulierung ihrer Key-Results. Aber die Ursache ihre Probleme sind nicht die Key Results, sondern ein schwach formuliertes Objective. Arbeitet daher zuerst an einem guten Objective, wenn ihre Probleme mit euren Key Results habt.
Bevor ich mit einem Vorschlag für die Beschreibung guter Objectives fortfahre, möchte ich die Definition des Begriffs Objective vorneweg stellen, die auch aus dem Buch von Paul Niven entnommen habe und unterstütze:
Ein Objective ist eine kurze Beschreibung eines qualitativen Ziels, das die Organisation in eine gewünschte Richtung voranbringen soll.
Eine Story-Schablone für deine Objectives
Um ein gutes Objective zu schreiben, brauche ich …
- einen Aufruf zum Handeln,
- eine klare Richtung, wo es hingehen soll
- und eine Begründung, warum das Objective überhaupt verfolgt werden sollte.
Diese drei Aspekte, also Aktion, Richtung und Begründung, können durch folgendes Schema dann zu einem Satz kombiniert werden:
- Das aktive Verb zu Beginn ist wichtig, weil wir über eine Aktion ins Handeln kommen wollen. Verben zwingen dazu, diese Handlung sprachlich auszuformulieren. Gleichzeitig führen Verben zu einer aktiven und lebhaften Sprache.
- Das ambitionierte Was beschreibt das qualitative Ziel und die gewünschte Richtung. Hier formulierst du deine Ambition und die überzeugenden Ergebnisse, die du mit dem Ziel ansteuerst.
- Die Schlussformel mit dem rationalen ** Warum** begründet das Objective. Was rechtfertigt dieses Objective? Warum ist es überhaupt in der Welt? Besteht das Objective überhaupt den “So What” Test von Felipe Castro? Diese Schlussformel kannst du gerne als eigenständigen Satz formulieren, damit das eigentliche Objective kräftiger wirkt.
Beispiele, Beispiele und noch ein paar Beispiele für Objectives
Die folgenden Beispiele zeigen, wie der Formelsatz für Objectives angewendet werden kann:
- Wir entwickeln die erste und zugleich beste verschreibungsfähige App für Logopäden, um einen neuen Markt zu gewinnen.
- Wir automatisieren unseren Freigabeprozess so extrem, dass wir künftig viel schneller neue Anforderungen reagieren können.
- Wir automatisieren Routinearbeiten, sodass wir uns vollständig auf die Arbeit mit Kunden konzentrieren können.
- Wir erfinden die beste Limonade ohne Süßstoff und Zucker, sodass wir den Markt für gesunde Erfrischungsgetränke vollständig aufrollen.
- Wir reduzieren die Antwortzeiten auf Supportanfragen dramatisch, damit die Kundenzufriedenheit unserer Nutzer erheblich steigt.
- Wir revolutionieren unsere Weiterbildung, damit unser Mitarbeiter die bestmögliche Qualifikation für ihre Aufgaben hat.
- Wir führen das Zielsystem Objectives & Key Results ein, um die Digitalisierung aller Geschäftsprozesse zu vollenden.
- Wir führen das erfolgreichste Vertriebs-Kick-Off in unserer Firmengeschichte durch, damit wir die notwendige Vertriebspower für das anstrengende nächste Quartal haben.
- Wir automatisieren unsere Entwicklungsprozesse so vollständig, sodass wir die Durchlaufzeit unserer Anforderungen auf ein Minimum verbessern.
Ich bin mir sicher, du wirst noch bessere Objectives entwickeln, als ich sie hier skizziert habe.
Gute Geschichten führen zu Realitäten
Der Schlüssel zu guten Objectives ist nicht nur der Formelsatz, sondern viel mehr die Geschichte, die dazu erzählt wird. Es geht bei der Entwicklung von Objectives um eine Erzählung aus der Zukunft. Eine starke Geschichte, die zur Realität werden soll. Nicht in einem Jahr, nicht in einem halben Jahr, sondern in maximal 12 Wochen!
Und um den Bogen zu Yuval Noval zu spannen. Eine gute Geschichte hat immer die Kraft, dass aus einer Fiktion eine Realität wird. Jeder Mitarbeiter von Peugeot kann das sicher bestätigen.
Ach übrigens, natürlich kannst du auch für Key Results gute Geschichten schreiben. Wie das funktioniert, das schreibe ich in einem eigenen Beitrag.
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Obwohl die User Story insbesondere im Kontext von Scrum gerne genutzt wird, ist sie eine Erfindung aus dem Extreme Programming. Die Grundidee war damals, dass diese User Stories nicht in einem Tool, wie Jira, verwaltet werden, sondern auf kleinen DIN A5 Karteikarten. User Stories waren nur der Gedächtnisanker, für die unglaubliche Geschichte, die vom Kunden erzählt und skizziert wurde. ↩︎
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Campbell bedauert übrigens, dass unser Planet Erde vollständig erforscht ist. Auf der Erde gibt es keinen mythischen Ort mehr. Die Idee von Campbell ist es, einen neuen mythischen Ort zu suchen, damit künftige Geschichten wieder an Kraft gewinnen. ↩︎
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Das sagte Paul Niven bei der Frage & Antwort Runde am Ende des Events. ↩︎