Buchbesprechung: Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt von Gomez | Lambertz | Meynhardt

Buchbesprechung: Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt

Zum Thema Führung gibt es unglaublich viel Plattitüden. Eine ganze Industrie lebt mittlerweile von einfachen Führungs- und Organisationsrezepten. Ich selbst habe meinen Ärger über den agil-industriellen Komplex bereits in meinem Artikel “Stoppt Agilität” zum Ausdruck gebracht. Eine häufige Denkfalle ist die Trivialisierung komplexer Vorgänge. Zur Erinnerung: Komplex sind Sachverhalte, in denen keine kausale Ursache-Wirkung Beziehung mehr besteht.

Und daher freute ich mich umso mehr auf das Buch “Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt” (*), von Peter Gomez, Mark Lambertz und Timo Meynhardt. Die Autoren suchen bewußt die optimale und nicht die triviale Vereinfachung von Organisation und Führung. Das Buch ist daher kein leichter Lesestoff, ich musste mir manche Inhalte ein wenig erarbeiten.

Kybernetik und Management

Für mich ist die Kybernetik (engl. Cybernetics) eine faszinierende Wissenschaft. Die von Norbert Wiener1 in 1948 begründete Wissenschaftsdisziplin, überträgt die Prinzipien der Informationsverarbeitung von Organismen auf Systeme. Ohne die Kybernetik, gäbe es heute weder Computer, noch Digitalisierung und auch keine nichtinvasive Chirurgie. Die Kybernetik wurde erfolgreich auf viele Disziplinen angewendet: Der Philosophie, den Ingenieurwissenschaften, der Informatik und letztendlich auch auf die Managementlehre.

Norbert Wiener (c) Wikipedia

Ich selbst erinnere mich bei dem Begriff Kybernetik lebhaft an die Bücher des polnischen Autors Stanislaw Lem2. Lem wendete gedanklich die Kybernetik auf künftige Gesellschaftssysteme an und zeigte, welche Gefahren hinter dem absoluten Fortschrittsglaube lauern. Norbert Wiener dachte in ähnlichen Kategorien und beschäftigte sich bereits in den 50er Jahren mit der Frage der Ethik der künstlichen Intelligenz. Eine Frage, die heute aktueller ist denn je.

Das Viable System Model oder das Modell lebensfähiger Systeme

Das Viable System Model (VSM) oder das Model lebensfähiger Systeme, wurde 1958 vom Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler Stafford Beer3 beschrieben. Stafford Beer wendete die Kybernetik auf die Organisationstheorie an. Daraus entwickelte Beer einen Denkrahmen, welcher eine gute Balance zwischen notwendiger Vereinfachung und der Komplexität von Organisationen darstellt.

Stafford Beer und sein berühmtes Zitat. Bild von azqotes

Die St. Gallener Managementlehre …

Das Viable System Model beeindruckt mich auf zwei weitere Weisen, die zunächst nichts mit dem Buch zu tun haben. Zum einen basieren die wichtigsten europäischen Managementansätze, wie die St. Gallener Managementlehre, unmittelbar auf dem VSM. Viele Begriffe waren mir daher bei meiner Ausbildung durch Malik Management bekannt und Fredmund Malik selbst ist ein großer Verehrer von Stafford Beer.

über das Projekt “Cybersyn” …

Einen größeren und vielleicht etwas traumatischen Eindruck habe ich durch ein abgebrochenes gesellschaftliches Experiment. Stafford Beer wurde im Jahr 1972 damit beauftragt, ein Konzept zur wirtschaftlichen Steuerung des gesamten Landes Chile auf Basis der Kybernetik und des VSM zu entwickeln. Das Projekt mit dem Namen “Cybersyn” basierte technisch auf einem landesweiten Fernschreibernetz und Computerprogrammen, die die Produktion und Güterverteilung des Landes in Echtzeit steuern sollten.

Modell der geplanten Zentrale für das Projekt Cybersyn (c) Wikipedia

Heute erinnert nur noch ein Foto der geplanten futuristischen Hauptzentrale an dieses Projekt, welches durch den brutalen Militärputsch 1973 beendet wurde 4. Das Projekt “Cybersyn” ist nicht Gegenstand des Buches aber mich persönlich hätten die Ergebnisse der kybernetischen Produktionssteuerung sehr interessiert. Stafford Beer hat später seine Erfahrungen mit diesem Projekt dokumentiert.

Das Buch: “Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt”

Die sechs Kapitel des Buches sind analog zu den Systemebenen des Viable System Model aufgebaut. Die Autoren wenden also bewußt ihr Managementmodell auf die eigenes Buch an und es ist ein schönes Beispiel für einen wichtigen Gedanken in der Produktentwicklung: Dogfooding, nutze deine angebotenen Produkte selbst. Daher spiegelt das Buch alle Eigenschaften des VSM im Aufbau der Kapitel wieder. Das hat mir sehr gut gefallen.

Kapitel 1: Der reflektierende Pragmatiker

In Kapitel 1 beschäftigen sich die Autoren mit der Umwelt und mit möglichen Szenarien unserer Zukunft. Im Mittelpunkt steht der Wandel der Führung im Laufe der Zeit. Das im Buch gezeichnete Führungsbild ist die Führungskraft als reflektierender Pragmatiker 5. Diesen reflektierenden Pragmatiker beschreiben die Autoren durch 5 Denkmuster, die in allen folgenden Kapitel zur Bewertung der Lösungsansätze aufgegriffen werden:

  • Denkmuster 1: Die optimale Vereinfachung der Komplexität. Mache die Dinge nicht einfacher, als sie sind.
  • Denkmuster 2: Das Prinzip der russischen Puppen. Betrachte ein System als mehrschichtig und rekursiv.
  • Denkmuster 3: Die Einheit von Freiheit und Verantwortung. Ohne Verantwortung gibt es keine unternehmerische Freiheit.
  • Denkmuster 4: Im Zentrum ist der Mensch. Der Mensch darf nicht in Konkurrenz zur Maschine stehen.
  • Denkmuster 5: Ganzheitliche Erfolgsmessung. Langfristigen Erfolg haben Unternehmen, die eine Aufgabe für das Gemeinwohl erfüllen.

Kapitel 2 oder das Viable System Model

Das Kapitel 2 führt in die Geheimnisse des Viable System Model ein. Also auf Deutsch: Das Modell lebensfähiger Systeme 6. Beim Lesen bemerkte ich, dass sich die Autoren mit dem Thema lange und mit großer Begeisterung beschäftigt haben. Mir gefällt die schrittweise Einführung in das VSM. Besonders schön finde ich, dass anhand einer fiktiven Firma Machines ltd. alle Systeme des VSM anschaulich beschrieben werden.

Schematisch vereinfachtes Viable System Model. (c) Gomez/Lambertz/Meynhardt

Die Systemebenen des VSM in Kurzform:

  • Umwelt: Ohne Umwelt kann ein Unternehmen nicht existieren.
  • Operation: Der Ort der Wertschöpfung. Diese Ebene ist elementar, um das Lieferversprechen zu erfüllen.
  • Lokales Management: Dieses System unterstützt das Tagesgeschäft und ist zugleich Bindeglied zum taktischen Management.
  • Taktisches Management: Koordination und Rhythmus des Tagesgeschäfts. Ein Beispiel dafür wäre ein Sprint aus Scrum.
  • Strategisches Management: Erkundung der Umwelt und Vorbereitung der Organisation auf kommende Veränderungen.
  • Normatives Management: Sinn und Zweck der Organisation. Die hier definierten und gelebten Werte ermöglichen der Organisation Zusammenhalt und Kraft.

Die Lektüre hat meine Sicht auf Unternehmen beeinflusst. In der heutigen Betriebswirtschaftslehre werden Organisationen wie Maschinen betrachtet. Ihre Strukturen lassen sich planen und können über Excel oder BI-Tools mechanisch gesteuert werden. In dieser technokratischen Sicht sind Mitarbeiter “Ressourcen”, die mit Stellenanteilen auf Projekte oder Aufgaben verteilt werden. Das VSM bezieht dazu eine interessante Gegenposition. Obwohl gerade das VSM seine Wurzeln in der technischen Kybernetik hat, besagt es, dass Unternehmen eher organischer Natur sind. Sie kommunizieren mit der Umwelt und erwerben eine Fähigkeit zur eigenen Existenzsicherung. Organisationen sind keine Maschinen, sie leben!

Kapitel 3: Die oberste Autorität und die normative Sicht

In Kapitel 3 geht es um die normative Sicht auf Unternehmen. Hier treffen die Autoren eine interessante Aussage, die mit Sicherheit nicht “Common Sense” ist. Die Aussage der Autoren ist, eine Sinnhaftigkeit (Purpose) kann für Unternehmen erst aufgebaut werden, wenn ein Beitrag für das Gemeinwohl der Menschen vorhanden ist. Also jedes dauerhaft erfolgreiche Unternehmen muss, neben seiner wirtschaftlichen Existenz, einen Gemeinwohlbeitrag oder “Public Value” haben. Um einen Ausgleich zwischen der Wertschöpfung und dem Gemeinwohl herzustellen, wird die Public Value Scorecard als Instrument vorgestellt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese Aussage für viele Unternehmer schwierig ist. Ich frage mich: Was für einen Gemeinwohl stiftet ein Waffenfabrikant? Vielleicht Friede durch Abschreckung?

Auf der anderen Seite weiß jeder, der sich mit Visionsbildung von Unternehmen einmal beschäftigt hat, dass eine sinnstiftende und motivierende Unternehmensvision etwas sein muß, mit denen sich die Mitarbeiter identifizieren können. Es muss einen Zweck der Existenz (ZdE) 7 geben, der mit dem ZdE der Mitarbeiter korreliert.

Kapitel 4: Die strategische Sicht

Das Thema Strategie ist ein vielschichtiges und schwieriges Thema. Was ist eine Strategie überhaupt? Hier hilft der Duden weiter:

Eine Strategie ist ein genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein militärisches, politisches, psychologisches, wirtschaftliches o. ä. Ziel zu erreichen, und in dem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, von vornherein einzukalkulieren versucht.

Für die Strategieentwicklung wird ein interessantes Werkzeug vorgestellt: Der Engelskreis. Die Grundidee ist bestechend einfach. Jedes selbsterhaltende System basiert auf einem Kreislauf. Bei erfolgreichen Unternehmen führt das idealerweise dazu, dass das Unternehmen in seinem Markt kontinuierlich wächst.

Erfolgskreislauf als Motor eines Pharmaunternehmens als Beispiel von Gomez/Probst. (c) Gomez/Lambertz/Meynhardt

Den Teufelskreis kennen wir alle. Ein Teufelskreis existiert, wenn die Aktionen im Kreislauf zu einer immer größeren selbstverstärkenden Krise führen. Es gilt also, ein Unternehmen im Erfolgskreislauf zu halten. Strategieentwicklung bedeutet, diesen Erfolgskreislauf mit allen äußeren Einflüssen zu identifizieren. Eine erfolgreiche Unternehmensstrategie verstärkt Faktoren, die den Erfolgskreislauf positiv anregen. Diese Form der Strategieentwicklung geht für mich einen deutlichen Schritt weiter und führt zu einer mehrdimensionalen Strategielandkarte. Die Strategie betrachtet ein System sich wechselseitig beeinflussender Faktoren 8. Sehr gut!

Kapitel 5: Die operative und agile Sicht der Systeme 1 und 2

In dem Kapitel zur operativen Sicht wenden sich die Autoren dem Thema Agilität zu. Sie ordnen agile Denkmuster und einen ganzen Blumenstrauß an Methoden in den Kontext des VSM ein. Einiges davon war für mich neu. Sehr gut gefiel mir der aus dem Militär stammende Ansatz des OODA. OODA steht für Observe, Orientate, Decide, Act. Das mag sich verkürzt anhören, aber die Grundidee insbesondere für Führungskräfte ist: Habe ich vor jeder Entscheidung wirklich genau beobachtet, mich orientiert und eine Richtung erkannt? Erst dann kommt eine Entscheidung und letztendlich die Umsetzung. Das finde ich plausibel und gut.

Sehr gut gefallen hat mir auch die in diesem Kapitel aufgezeigte Darstellung von Organisationen als Kreisdiagramme. Die Unternehmensführung und die unterstützenden Bereiche sind in dieser Darstellungsform im Zentrum, die operativen Einheiten agieren an der Peripherie. Durch diese einfache Veränderung gegenüber dem klassischen Organigramm, kommt etwas sehr wichtiges zum Ausdruck: Die Mitarbeiter der Peripherie sind nahe am Kunden. Das stärkt ihre Position. Es gibt weder oben und unten, sondern gemeinsame Aufgaben im Unternehmen. Natürlich gibt es unterschiedliche Rollen und auch unterschiedliche Gehälter, aber das Zusammenspiel der Kräfte und der Wille, das Unternehmen “überlebensfähig” zu halten, das steht jetzt im Vordergrund. Nach der Lektüre dieses Kapitels sage ich: Ersetzt eure Organigramme durch Kreisdiagramme!

Kapitel 6: Das Leipziger Führungsmodell

Ich glaube, es gibt kaum ein Buch über Führung, dass nicht wenigstens einmal Peter Drucker9 zitiert. Peter Drucker macht deutlich, dass gute Führung immer eine Führung am Unternehmen ist. Es geht bei Führung nicht darum, ob ich als Führungskraft wenig Fehler gemacht habe. Es geht ausschließlich darum, welchen Nutzen ich als Führungskraft für das Unternehmen und für das Team leiste. Dieser Gedanke ist die Basis für das Leipziger Führungsmodell.

Was mir persönlich gut gefällt: Wenn Führungsqualität der Beitrag zum Unternehmenserfolg ist, dann entlastet das auch die Führungskräfte. Es geht nicht mehr darum, als Führungskraft alles im Griff zu haben, alles besser zu wissen oder letztendlich der Held der Abteilung zu sein. Es geht schlicht um den eigenen Beitrag zum Unternehmen. Das bekräftigt auch meine Sicht, dass Führung viel zu wichtig ist, als dass man diese den Führungskräften alleine überlassen darf. Damit wird jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter zu einer Führungskraft, solange sie ihren Beitrag am Unternehmenserfolg leisten.

Respekt!

Du hast bis hierhin gelesen. Respekt! Ich gebe zu: Das Buch ist harter Tobak. Es geht nicht um leicht zu konsumierende Führungstipps. Das Buch zeigt stattdessen ein umfassendes Instrumentarium an geballter Managementtheorie und -praxis auf. Auf Grund der Breite der Themen, bleibt das Buch an vielen Punkten zwangsläufig an der Oberfläche. Auf der anderen Seite gewann ich einen Fundus an inspirierenden Denkanstößen. Mir gefiel besonders die Idee von Organisationen als überlebensfähige Systeme, der Erfolgskreislauf als Basis der Strategieentwicklung und ich hatte große Freude, wieder etwas über die Kybernetik zu lesen.

Und zum Schluss lasse ich noch einmal den großen Stafford Beer zu Wort kommen, der den Begriff “Purpose” für alle Ewigkeit definiert hat:

The purpose of a system is what it does. There is after all, no point in claiming that the purpose of a system is to do what it constantly fails to do.

Und das passt auch auf dieses Buch. Nicht wahr?


* = Affiliatelinks/Werbelinks


  1. Norbert Wiener ist Mitbegründer der Wissenschaft der Kybernetik. Interessant finde ich, dass er sich bereits sehr früh (1948) mit Fragen der künstlichen Intelligenz beschäftigte, die genau in dieser Form hoch aktuell sind. ↩︎

  2. Stanislaw Lem beschrieb in seinem Zyklus Cyberiada eine maschinelle Gesellschaft und deren Ethos, die durch fortgeschrittene Kybernetik entstand. Hier ein Buchtipp (*)↩︎

  3. Stafford Beer beschrieb das VSM zum ersten mal in seinem wegweisenden Buch “Kybernetik und Management”. ↩︎

  4. Stafford Beer hat später selbst ein Buch zur Anwendung des VSM im Bereich der öffentlichen Verwaltung geschrieben: https://web.archive.org/web/20171118044804/http://www.williambowles.info:80/sa/FanfareforEffectiveFreedom.pdf. Damit kein falscher Eindruck entsteht. Bei dem Projekt Cybersyn ging es nicht um eine zentrale Produktionssteuerung, sondern um vierfach rekursives dezentral orientiertes System. Cybersyn ist eher eine Art Super Scrum of Scrum. Siehe dazu Seite 17 in dem Buch. ↩︎

  5. Der reflektierende Pragmatiker zieht für mich auch eine Parallele zur unternehmerischen Führung, wie Sie beispielsweise in dem Buch Effectuation * von Michael Faschingbauer beschrieben wird. Effectuation bedeutet, dass bestehende Kompetenzen, Ressourcen und Netzwerke für unternehmerisches Handeln und Denken genutzt werden. ↩︎

  6. Ich glaube, in Deutschland hat sich niemand so lange mit lebendigen Organisationen beschäftigt, wie Mark Lambertz (@mkyschnitzel). Es gibt dazu auch einen sehr hörenswerten Podcast von Leonid Lezner und Mark Lambertz zu diesem Thema. ↩︎

  7. Das mit dem Zweck der Existenz habe ich mir nicht ausgedacht. Es ist eine Idee von John Strelecky aus seinem Buch “Die Big Five for Life”. ↩︎

  8. In diesem Zusammenhang fallen mir noch die Wardley-Maps ein, die vielleicht einen Schritt in der Strategieentwicklung weitergehen. Die mittlerweile 19-teilige Artikelreihe zu dem Thema findest du hier: https://medium.com/wardleymaps/on-being-lost-2ef5f05eb1ec↩︎

  9. Peter Drucker gilt als der Managementpapst schlechthin. Er begründete die moderne Managementlehre. Als österreichischer Jude emigrierte Drucker nach Großbritannien und siedelte später in die USA über. Einige seiner Bücher wurden von den Nationalsozialisten verbrannt. Auch wenn es hier vielleicht nicht passt, so zeigt es auf, was für große Denker diese faschistische Ideologie aus Deutschland vertrieben hat. ↩︎

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