Voodoo Priester und die Methode Spotify – Teil 1 - Die Illusion

Hinweis: Dieser Blogartikel basiert auf einen Vortrag, den ich zusammen mit Boris Gloger auf der Veranstaltung “Der Agile Kompass” am 23.10.2020 zum Thema Spotify-Modell gehalten habe.

Henrik Kniberg1 ist nicht nur Agile Coach und begeisterter Minecraft-Spieler2, sondern vor allem auch ein begnadeter Kommunikator. Henrik Kniberg kann wirklich begeistern. Sein vielleicht größtes Meisterwerk ist das Spotify-Modell, das Kniberg in 2012 zusammen mit Anders Ivarsson in einem Whitepaper beschrieben hat. Und plötzlich wurde aus einer sterbenslangweiligen Matrix-Organisation den Anstrich eine lebendige Welt mit Squads, Gilden, Tribes und Chapters.

Die Illusion

Womit Kniberg sicher nicht gerechnet hatte, war, dass seine Ideen einer ganzen Schar von Organisations-Voodoo-Priestern3 zu einem neuen Geschäftsmodell verhalfen. Die Voodoo-Idee: Verkaufe klassischen Unternehmen den Anstrich einer agilen Organisation! Und verrate dabei nicht, dass es das Spotify-Modell eigentlich in Reinform nie gegeben hat. Illusionen sind etwas Schönes, vor allem, wenn sich nicht viel ändern muss …

Wie alles begann

Henrik Kniberg unterstützte als Consultant das schwedische Start-up Spotify. Das war eine Zeit, in der Spotify dramatisch wuchs. Wachstum war Teil des Überlebensmodells für Spotify, um sich im harten Markt der Musikindustrie etablieren zu können. “Move fast and break Things”, das war und ist das Motto von Daniel Ek, Mitgründer von Spotify, der diese Grundidee aus seiner Zeit von Facebook nach Spotify brachte.

2012 veröffentlichte Kniberg und sein Kollege Anders Ivarsson4 das WhitePaper5 für das Spotify-Modell. Diesem Papier folgten zwei YouTube Videos6 mit animierten Bildern zu den dahinterliegenden Ideen und Prinzipien. Das Spotify-Modell war in der Welt und hinterließ großen Eindruck: zunächst in der agilen Community, später bei den großen Beratungshäusern.

Aus den Videos und dem Whitepaper blieb insbesondere die Grafik der Aufbauorganisation im Gedächtnis hängen. Donnerschlag, fuhr es manchen durch den Kopf. So cool und aufgeräumt kann eine skalierte agile Aufbauorganisation aussehen. Endlich gab es neben den unzähligen Prozessbeschreibungen eine strukturierte Darstellung für Strukturmenschen und Entscheider.

Das Spotify-Modell in 5 Minuten

Falls du dir die Engineering-Videos und das Whitepaper nicht durchlesen willst, fasse ich in aller Kürze die Grundidee zusammen.

Das blieb hängen vom Spotify Modell

Maximal Viable Autonomy

Das Spotify-Modell ist auf Entwickler zugeschnitten. Entwickler wollen, na ja, entwickeln und sie wollen es auf ihre und jeweils beste Weise tun. Sie wollen es mit ihren Tools, ihren Frameworks und ihren Ideen machen. Daher sind viele Ideen im Spotify-Modell darauf zurückzuführen, wie die Autonomie aller Beteiligten möglichst groß gehalten werden kann, ohne, dass die Organisation insgesamt Schiffbruch erleidet. Ich finde, dass dieses Wissen über die Autonomie der Mitarbeiter sehr wichtig ist, um einige Entscheidungen und auch die Grundstruktur des Spotify-Modells zu verstehen.

Squads

Die kleinste Organisationseinheit im Spotify-Modell ist das Squad. Ein Squad ist ein kleines Entwicklerteam, welches vollständig für einen Ausschnitt eines Produktes zuständig ist. Wir Techniker sagen, es handelt sich um eine Ende-zu-Ende-Verantwortung. Kniberg nutzte für die Teams bewusst einen anderen Begriff, als Scrum-Team. Denn obwohl Spotify als Scrum-Organisation entstand, steht die Wahl der Arbeitsorganisation den Teams völlig frei. Die deutsche Übersetzung von Squads ist übrigens Kader. Das klingt nicht mehr so aufregend.

Guilds

Die Gilden sind Communities of Practice (CoP). Die Gilden bilden sich für bestimmte Problem- oder Themenbereiche spontan und lösen sich wieder auf. Gilden sind informell und selbstorganisiert. Dass diese schöne Idee auch ihre Schattenseiten hat, das erfährst du im zweiten Teil des Artikels.

Tribes

Die Squads werden bis zu einer Größe von 150 Mitarbeitern zu einem Tribe zusammengefasst. Die Größe ist kein Zufall, sondern entspricht der maximalen Anzahl von Menschen, die sich noch direkt und persönlich gut kennen können. Das ist die sogenannte Dunbar-Zahl, die irgendwo zwischen 100 und 250 liegt. Ein Tribe wird von einem Tribe-Lead geführt, der durchaus aus mehr als einer Person bestehen kann. Beispielsweise aus einem Product-Lead (Produktmanager) und einem Technical-Lead (Architekt).

Chapters

Ein großes Schmerzthema bei Spotify ist das extreme Wachstum. Das Wachstum an Personal ist Teil der Strategie, in dem extrem harten Business der Streaming-Dienste mit immer neuen Produkten relevant zu bleiben. Eine Idee war es, Menschen mit ähnlichem Kompetenzprofil zu Chapters zusammenzuführen. Diese werden von einem Chapter-Lead geführt, der sich um die “Verteilung” auf verschiedene Squads und die Personalentwicklung kümmert.

Was macht das Spotify so interessant?

Das ganze Thema Spotify-Modell wuchs sich aus. Plötzlich gab es und gibt es immer noch ganz viele Unternehmen, die das Spotify-Modell adaptieren. In Deutschland hat insbesondere die ING-DIBa7 für Aufsehen gesorgt, weil diese Bank tatsächlich die eigene Aufbauorganisation ganz stark an das Spotify-Modell anlehnte.

Was macht das Spotify-Modell so interessant?

Wie kommt es, dass ein Aufbaumodell eines schwedischen Start-ups so große Wellen schlägt, dass selbst eine Großbank wie die ING-DIBa sich ernsthaft daran orientieren? Nun, es gibt 6 Gründe, die sich allein aus der Aufbauorganisation ableiten:

  1. Coole Namen: Die Idee, einer neuen agilen Arbeitsweise coole Namen zu geben ist nicht neu. Was wäre Scrum ohne Sprints, Pigs und Chickens? Es wäre modernes Produktmanagement mit vielleicht drei neuen Ideen. Und so ist es auch beim Spotify-Modell: Gilden, Tribes und Squads sind Begriffe, die aus der Gaming-Szene kommen. Viele Entwickler und Nerds fühlen sich dadurch angesprochen.

  2. Alles in einer Box: Endlich kommt neben Prozessen, Wertströmen und was es sonst noch alles gibt, eine Aufbauorganisation. Viele Entscheider und Manager sind Strukturmenschen. Die sehr strukturierte Darstellung der Organisation spricht diese sehr an. Gleichzeitig ist es so, dass auch organisatorische Fragen und Rollen geklärt werden. Laterale Führung und die Auftrennung in Business Lead, Technical Lead und Personal Lead sind im Modell aufgezeigt.

  3. Alles bleibt Matrix: Bei Lichte betrachtet ist das Spotify-Modell nichts anderes als die gute alte Matrix-Organisation. Mit all ihren Stärken und Schwächen. Dennoch, der Übergang in eine Matrix ist etwas, was viele vor allem größere Unternehmen gut organisiert bekommen. Außerdem scheint das Spotify-Modell auch ein guter Zwischenschritt für eine noch agilere andere Organisationsform zu sein. Zumindest von der Theorie her.

  4. Architektur statt Prozesse: Das Spotify-Modell hat einen entscheidenen technischen Hintergrund, der oft nicht thematisiert wird. Die Firma Spotify unterhält einen Streaming-Dienst für Medien. Das bedeutet, dass technische Skalierung, hohe Veränderungsgeschwindigkeit (Agilität sic!) und eine starke Entkopplung zwischen den Teams unternehmenskritisch sind. Das Spotify-Modell wurde als Reaktion auf das Gesetz von Conway8 entwickelt. Conway hat erkannt, dass sich die technische Architektur und die Aufbauorganisation von Softwareprojekten bedingen. Das bedeutet, dass sich die Aufbauorganisation unweigerlich in der Architektur der Lösung abbildet. Das Spotify-Modell trägt dem Rechnung, da die Squads technisch lose Module entwickeln, die im Rahmen von Tribes wieder zu einer losen Struktur zusammengefügt werden.

  5. Spotify funktioniert doch: Aber der wichtigste Punkt für Entscheider ist ganz einfach: Spotify ist erfolgreich. Spotify ist erfolgreich in einem der härtesten Branchen der Welt, dem Musik-Business. Und die Konkurrenten dieses Start-ups sind keine kleinen Fische, sondern es sind Google, Apple und Amazon. Microsoft hat schon lange das Handtuch geschmissen. Also kann das, was Spotify da so macht, nicht ganz verkehrt sein.

Der Voodoo-Effekt: So wird dein Unternehmen zu einer agilen Organisation

Die Matrix und die mit dem Spotify-Modell verbundenen Verheißungen machen die Implementierung auch sehr attraktiv.

Voodoo-Zauber: So wirst du zu Spotify

Das Patentrezept:

  • Schritt 1: Implementiere das Spotify-Modell.
  • Schritt 2: Egal …
  • Schritt 3: Du bist jetzt ein agiles Unternehmen!

Aber so funktioniert es leider nicht. Natürlich lässt sich eine Organisation hin zu einer von Spotify inspirierten Aufbauorganisation verändern. Aber warum solltest du das tun? Und wie geht es dann weiter?

Fazit: Traue keinem Voodoo-Priester, sondern mache einen Realitäts-Check

Das Spotify-Modell ist eine Illusion und benötigt einen Realitäts-Check. Warum das so ist, das erläutere ich im zweiten Teil mit dem Titel “Voodoo Priester und die Methode Spotify . Teil 2 - Die Realität” erscheint.

Eines kann ich jetzt schon verraten. Das Spotify-Modell hat es in Reinform bei Spotify nie gegeben und es ist an einigen Punkten auch gescheitert. Warum das so ist, das erläutere ich im Folgeartikel. Bleibe gespannt oder schau dir die Präsentation dazu jetzt schon an. Du kannst sie hier herunterladen.

Und Henrik sprach schon in 2012 weise Worte: Während du das hier liest, haben sich die Dinge grundlegend geändert! Das stimmt!

Disclaimer: We didn’t invent this model. Spotify is (like any good agile company) evolving fast. This article is only a snapshot of our current way of working - a journey in progress, not a journey completed. By the time you read this, things have already changed! Kniberg, Ivarsson 2012


  1. Henrik Knibergs Webseite crisp, sein Blog, Henrik auf Twitter und LinkedIn↩︎

  2. Und hier ist die Minecraft-Seite von Henrik↩︎

  3. Ich will nicht sagen, dass hier alle Beispiele Voodoo-Priester sind, aber es erstaunt mich schon, wie das Spotify-Modell als gut dokumentiertes Vorbild für eine agile Organisation angepriesen wird. Ein Beispiel https://digitaleneuordnung.de/blog/spotify-model/ ↩︎

  4. Anders Ivarsson ist auch heute noch Agile Coach bei Spotify ↩︎

  5. Das originale Whitepaper zum Spotify Modell auf der Webseite von Henrik: https://blog.crisp.se/wp-content/uploads/2012/11/SpotifyScaling.pdf ↩︎

  6. Video 1 und 2 zur Engineering Culture von Spotify. Beide Videos finde ich sehr sehenswert. ↩︎

  7. Christoph Schmiedinger berichtet über den Einsatz des Spotify-Modells im Banken-Sektor: https://www.der-bank-blog.de/banken-spotify-modell/strategie/37658831/ ↩︎

  8. Gesetz von Conway: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_von_Conway ↩︎

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